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Hier ist die Rede von Herrn Dr. Hartmann
Liebe Europäerinnen, liebe Europäer,
Gedenktage erinnern gewöhnlich an etwas Historisches, längst Vergangenes. Heute ist das anders: Russlands Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine ist noch längst nicht zu Ende. Dieser Krieg ist, man kann es nicht oft genug sagen, ein einziges Verbrechen – ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Verbrechen gegen Recht und Moral und nicht zuletzt ein Verbrechen an der Ukraine und ihren Menschen.
Umso drängender ist der Wunsch nach Friede. Genau das ist derzeit das Angebot der internationalen Politik. Aber ist das der Friede, auf den die Welt, auf den die Ukraine gewartet und gehofft hat? Typen wie Putin und Trump wollen die Welt neu ordnen – in direkter, persönlicher Absprache. Ohne Beteiligung und ohne Rücksicht auf die Ukraine, aber auf deren Kosten. Und ohne Europa an den Verhandlungen zu beteiligen, aber auch – Stichwort Friedenstruppe – auf unsere Kosten. Doch brauchen wir uns nicht zu beklagen. Die Ukraine ist das Opfer dieses Krieges, und sie ist auch sein Schauplatz. Niemand hat in diesem Krieg ein so großes Recht auf Frieden wie das ukrainische Volk.
Was hier momentan vorbereitet wird, ist kein Friede. Es ist eine Kapitulation. Jeder weiß inzwischen, wie die russische Besatzungsherrschaft in der Ukraine aussieht. Putins Friede wäre nichts anderes als eine Unterwerfung - mehr eine Friedhofsruhe, denn ein wirklicher Friede.
Noch nicht einmal der Friede würde mit einer solchen Kapitulation gesichert. Sie wäre nur eine Bestätigung von Putins imperialistischer Politik, sie wäre nur Auftakt zu neuen Annexionen.
Echte Aussöhnung sieht anders aus. Sie hätte anzufangen mit einem völkerrechtlichen Prozess gegen die Hauptverantwortlichen dieses Krieges und gegen jene, die in diesem Krieg schuldig geworden sind. Der russische Diktator weiß sehr genau, warum er sich auf all unsere schönen Vorstellungen und Offerten nicht einlässt. Warum sollte er? Die Zeit scheint für ihn zu arbeiten. Und er weiß auch, was ihm und seinem Regime blüht, wenn er das Wort Friede und unsre Hoffnungen darauf wirklich ernst nehmen würde.
Auch in Deutschland gibt es Leute, die das wollen – Friede um jeden Preis. Gründe dafür gibt es viele: pazifistische, religiöse, weltanschauliche, politische, egoistische oder ganz einfach materielle. Doch sollten wir uns nichts vormachen: All diese Motive, so unterschiedlich sie auch sind, helfen dem Aggressor. Er führt einen langfristig angelegten Zermürbungskrieg gegen die Ukraine – und auch gegen uns, gegen Europa.
Der heutige Tag erinnert nicht allein daran, dass wir vor drei Jahren in einer neuen Welt aufgewacht sind. Er dient auch der Rückschau auf gestern, auf unsere Wahl zum Deutschen Bundestag. Deutschland hat sich neu sortiert. Noch nie waren die Parteien so stark, die gegen eine militärische Unterstützung der Ukraine sind: AfD 20,8 %, Die Linke: 8,8 %, und rechnen wir noch das BSW mit 4,9 % dazu, so sind das satte 34,5 %, ein Drittel der Wählenden. In diesen Lagern redet man oder frau oft und gern vom Frieden und von Verhandlungen. Aber was heißt das in Wirklichkeit? Die bedingungslose Anerkennung von Putins Diktatur und die zynische Aufgabe der Ukraine. Hierzu zwei Beispiele:
Im ersten Jahr des Krieges, im Mai 2023 hatte die Russische Botschaft in Berlin zu einem Empfang geladen: Es kamen unter anderem Tino Chrupalla, Vorsitzender der AfD, sowie Klaus Ernst, der künftige Hoffnungsträger des BSW – und auch zwei ehemalige deutsche Staatsmänner: Egon Krenz und Gerhard Schröder, – vormals Aufsichtsrat der Nord Stream AG und des russischen Ölkonzerns Rosneft. Wahrlich, eine bizarre Riege.
Ein Jahr später, im Juni 2024, hat es derselbe Tino Chrupalla zusammen mit den Fraktionen von AfD und BSW, darunter auch Sahra Wagenknecht, abgelehnt, dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zuzuhören, als dieser im Bundestag sprach. Sie wolle, so die AfD, „keinen Redner im Tarnanzug“. Und weiter im Zitat: „Selenskyjs Amtszeit ist abgelaufen. Er ist nur noch als Kriegs- und Bettelpräsident im Amt.“ Ein „Kriegs- und Bettelpräsident“. Wir sollten alles tun, dass dieser widerliche Zynismus nicht noch weiter um sich greift.
Überhaupt kommt bei unseren erregten und giftigen Debatten eine Stimme entschieden zu kurz – die der Ukrainerinnen und Ukrainer. Offenbar haben wir Deutsche wenig aus unserer Geschichte gelernt. Zweimal hat das Deutsche Reich im vergangenen Jahrhundert geglaubt, über die Ukraine bestimmen und sie dabei auch noch ausbeuten zu können. Das eine Mal 1918, als deutsche Truppen die Ukraine als sogenannte „Kornkammer“ besetzten. Noch viel katastrophaler waren die Jahre 1941 bis 44, als die deutschen Besatzer die Ukraine in ein sogenanntes Reichskommissariat verwandelten und damit in ein Reich des Todes. Wir sollten das nie vergessen, wenn wir jetzt wieder glauben, wir wüssten es besser, wir wüssten, was richtig und gut ist für die Ukraine.
Das hat nichts zu tun mit einer Missachtung der russischen und der sowjetischen Geschichte. Auch sie verdient unseren ganzen Respekt, denn unsere Schuld ist groß. Aber gerade, wenn es uns ernst ist um unsere historische Verantwortung, dann sollte auch nichts ausgeblendet werden: Von August 1939 bis Juni 1941 waren Nazi-Deutschland und die stalinistische Sowjetunion enge Verbündete. Ohne jedes Mitleid haben sie damals Ostmitteleuropa unter sicher aufgeteilt; auch das war ein Deal.
Und: Aufgrund der sowjetischen Politik kam es Anfang der 1930er Jahre in der Ukraine zu einer Hungersnot von biblischen Ausmaßen. Etwa 3,5 Millionen Menschen fielen dem Holodomor zum Opfer; manche Schätzungen sind etwas niedriger, manche deutlich höher. Der langsame Hungertod ist eine der grausamsten Todesarten. Ob dieses gigantische Verbrechen von der sowjetischen Führung bewusst geplant oder „nur“ billigend in Kauf genommen wurde, darüber streiten sich die Gelehrten. Sicher ist, dass dieses Ereignis von zwei weiteren begleitet wurde: Die damalige Liquidierung der Ukrainischen Kirche, der etwa 10.000 Kleriker zum Opfer fielen. Und das, was als „erschossene Renaissance“ in die Geschichte eingegangen ist – die systematische Ermordung oder Deportation von etwa 50.000 ukrainischen Künstlern und Intellektuellen.
Man könnte diese gemeinsame russisch-ukrainische Geschichte noch weiter zurückverfolgen – etwa in die Jahre 1917 bis 1920, als das bolschewistische Russland die unabhängige Ukrainische Volksrepublik in einem blutigen Bürgerkrieg zerschlagen hat.
Was hätte eigentlich Friedrich Engels zu all dem gesagt? 1874, angesichts der russischen Politik, meinte er einmal: „Ein Volk, das ein anderes unterdrückt, kann sich nicht emanzipieren. Die Macht, mit der es andere unterdrückt, wendet sich endlich immer gegen sich selbst.“
Genau das haben wir vor drei Jahren erlebt: Als dieser Krieg begann, gab es viele im Westen, darunter auch einige unserer führenden Politiker, die die Ukraine längst aufgegeben hatten. Sie hat uns eines Besseren belehrt. Auch diese Erfahrung, diese Wendung zum Guten sollten wir nie vergessen.
Frieden und Freiheit, Demokratie und Menschenwürde, Widerstand und Recht – das sind große und schöne Begriffe. Wir in Deutschland tragen sie manchmal wie Monstranzen vor uns her. Ob wir wirklich dafür einstehen würden, einstehen mit Leib und Leben, dieser Beweis steht glücklicherweise aus. Umso größer ist mein Respekt vor dem Mut und vor der Ausdauer der ukrainischen Gesellschaft: 2004, die Orangene Revolution, 2013/14, der Euromaidan und jetzt, seit 2022, die Verteidigung gegen die russische Invasion. Das ist nicht allein ein Kampf um Land und um eine Nation. Es ist immer auch ein Kampf um Werte, um unsere Werte.
Am Ende ein Gedicht – das viel zitiert und noch mehr gesprüht wurde in den 1970er und 80er Jahren, als ich hier in Tübingen aufgewachsen bin. Allerdings sah und las man immer nur die erste Zeile:
Stell Dir vor, es ist Krieg – und keiner geht hin.
So lautete damals die Botschaft vieler Wände. Das aber war nur der Anfang des Gedichts; seine Botschaft lautet eigentlich ganz anders:
Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt
Und lässt andere kämpfen für seine Sache
Der muss sich vorsehen; denn
Wer den Kampf nicht geteilt hat
Der wird teilen die Niederlage.
Nicht einmal Kampf vermeidet,
wer den Kampf zu vermeiden sucht.
Denn es wird kämpfen für die Sache des Feindes
Wer für seine Sache nicht gekämpft hat.
In diesem Sinne: Slava Ukrainji